3
Die Haarlocke
Es war fast Mitternacht, als Maigret am Quai des Orfèvres ankam. Der Sturm hatte seinen Höhepunkt erreicht. Die Bäume am Flußufer wurden kräftig geschüttelt, und aufgepeitschte Wellen schlugen gegen das Waschboot.
Die Büros im Justizpalast lagen nahezu verlassen. Dennoch war Jean an seinem Platz im Vorzimmer, von dem aus man die Flure überblicken konnte, die die vielen leeren Arbeitsräume säumten.
Von der Wache klangen Stimmen herüber. Hier und dort war unter einer Tür ein Lichtstreifen zu sehen: ein Kommissar oder ein Inspektor, der irgendeinem Fall nachging. Im Hof knatterte ein Auto der Präfektur.
»Ist Torrence wieder zurück?« erkundigte sich Maigret.
»Er muß jeden Augenblick kommen.«
»Mein Ofen?«
»Ich habe das Fenster etwas aufmachen müssen, so heiß war es bei Ihnen. Das Wasser rann an den Wänden herab!«
»Bestell mir doch Bier und ein paar Sandwiches. Aber nicht so kleine Häppchen, ja?«
Er stieß eine Tür auf und rief:
»Torrence!«
Kriminalobermeister Torrence folgte ihm in sein Arbeitszimmer. Bevor er den Nordbahnhof verlassen hatte, hatte Maigret ihn telefonisch angewiesen, die Untersuchung von seiner Seite aus fortzusetzen.
Der Kommissar war fünfundvierzig Jahre alt, Torrence erst dreißig. Aber er machte bereits einen so massiven Eindruck, daß er fast ein Abbild Maigrets war.
Sie hatten so manche Untersuchung gemeinsam durchgeführt, ohne ein überflüssiges Wort zu verlieren.
Der Kommissar zog seinen Mantel aus, seine Jacke, lockerte seine Krawatte. Mit dem Rücken zum Feuer ließ er sich ein Weilchen von der Wärme durchdringen, ehe er zu fragen begann: »Nun?«
»Die Staatsanwaltschaft hat sofort eine Beratung angesetzt. Die Spurensicherung hat Aufnahmen gemacht, aber keine Fingerabdrücke feststellen können. Außer denen des Opfers natürlich! Sie gleichen keinen aus unserer Kartei.«
»Wenn ich mich recht erinnere, haben die tatsächlich keine Abdrücke von dem Letten.«
»Nein, nichts außer seiner Personenbeschreibung. Keine Fingerabdrücke, keine Körpermaße.«
»Also haben wir keinen Beweis dafür, daß der Tote nicht Pietr, der Lette, ist.«
»Es beweist aber auch nicht, daß er es ist!«
Maigret hatte zu seiner Pfeife und einem Tabaksbeutel gegriffen, der jedoch nur noch ein paar braune Krümel enthielt. Automatisch reichte ihm Torrence ein angebrochenes Päckchen mit einfachem französischem Tabak hinüber.
Sie schwiegen. Der Tabak knisterte. Dann hörte man Schritte und aneinanderschlagende Gläser hinter der Tür, die Torrence öffnete.
Der Kellner der Brasserie Dauphine trat ein und stellte ein Tablett mit sechs Gläsern Bier und vier dickbelegten Sandwiches auf den Tisch.
»Reicht das?« fragte er, als er sah, daß Maigret nicht allein war.
»Das reicht.«
Ohne mit dem Rauchen aufzuhören, begann der Kommissar zu essen und zu trinken, nachdem er auch dem Kriminalobermeister ein Glas hinübergeschoben hatte.
»Und weiter?«
»Ich habe das gesamte Zugpersonal befragt. Es hat sich herausgestellt, daß ein Passagier ohne Fahrkarte gereist ist. Der Tote oder der Mörder! Vermutlich ist er in Brüssel von der anderen Zugseite aus zugestiegen. In Pullmanwagen kann man sich dank der großräumigeren Gepäckflächen leichter verstecken als in Abteilwagen. Zwischen Brüssel und der Grenze hat der Lette Tee getrunken und einen Stapel englischer und französischer Zeitungen durchgeblättert, darunter auch mehrere Wirtschaftsblätter. Zwischen Maubeuge und Saint-Quentin hat er sich zum Waschraum begeben. Der Oberkellner erinnert sich daran, weil er im Vorbeigehen zu ihm gesagt hat: ›Bringen Sie mir bitte einen Whisky.‹«
»Und hat er dann später seinen Platz wieder eingenommen?«
»Eine Viertelstunde danach saß er vor seinem Whisky. Aber der Oberkellner hat ihn nicht zurückkommen sehen.«
»Hat später niemand versucht, den Waschraum zu benutzen?«
»Verzeihen Sie! Eine Reisende hat an der Tür gerüttelt. Das Schloß hat geklemmt. Erst bei der Einfahrt in Paris ist es einem Eisenbahnbeamten gelungen, es aufzubrechen, und dabei hat er entdeckt, daß es durch Eisenspäne blockiert war.«
»Bis dahin hatte niemand den zweiten Pietr gesehen?«
»Niemand! Er hätte sonst die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, denn er hatte so abgetragene Kleider an, wie man sie in solchen Luxuszügen kaum findet.«
»Die Kugel?«
»Aus nächster Nähe abgefeuert. Automatischer 6-mm-Revolver. Der Schuß hat eine derartige Brandwunde verursacht, daß der Arzt behauptet, sie allein hätte genügt, um den Tod herbeizuführen.«
»Keine Kampfspuren.«
»Nicht die geringste! Die Taschen waren leer.«
»Ich weiß …«
»Pardon! Aber das hier habe ich gefunden. In einer kleinen zugeknöpften Innentasche der Weste.«
Torrence nahm ein Seidenpapiertütchen aus seiner Brieftasche, durch das man eine braune Haarlocke schimmern sah.
»Geben Sie her!«
Maigret aß und trank weiter.
»Frauen- oder Kinderhaare?«
»Von einer Frau, behauptet der Gerichtsmediziner. Ich habe ihm einige davon überlassen, die er gründlich untersuchen will, wie er mir versprach.«
»Die Autopsie?«
»Um zehn Uhr war alles vorbei. Wahrscheinliches Alter: 32 Jahre, Größe 1,68 m.
Keinerlei erbliche Belastung. Eine Niere ist allerdings in nicht sehr gutem Zustand und läßt vermuten, daß der Mann Alkoholiker war. Der Magen enthielt noch Tee und ein bißchen verdaute Nahrung, die unmöglich auf der Stelle analysiert werden konnte. Man wird sich morgen damit befassen. Wenn die Untersuchungen abgeschlossen sind, wird der Körper im gerichtsmedizinischen Institut aufbewahrt und dort eingefroren.«
Maigret wischte sich die Lippen ab, nahm seinen Lieblingsplatz vor dem Ofen ein und streckte eine Hand aus, in die Torrence reflexhaft seinen Tabak hineinlegte.
»Was mich betrifft«, sagte darauf der Kommissar, »so habe ich Pietr oder den, der seinen Platz eingenommen hat, im Majestic gesehen, wo er in Gesellschaft der Mortimer-Levingstons zu Abend gegessen hat, mit denen er verabredet gewesen zu sein schien.«
»Den Milliardären?«
»Ja. Nach dem Essen ist Pietr wieder in sein Appartement zurückgekehrt. Ich habe den Amerikaner gewarnt. Mortimer ist ebenfalls hinaufgegangen. Sie wollten zweifellos zu dritt ausgehen, denn Mrs. Mortimer kam wenig später, für den Abend in Schale geworfen, in die Halle herunter. Zehn Minuten darauf stellte man fest, daß die beiden Männer verschwunden waren.
Der Lette hatte seinen Smoking gegen einen weniger auffälligen Anzug eingetauscht. Er hat sich eine Mütze aufgesetzt, und der Portier hat ihn für jemanden vom Küchenpersonal halten müssen.
Levingston ist, wie er war, im Abendanzug fortgegangen.«
Torrence sagte nichts. Und während des darauffolgenden langen Schweigens hörte man deutlich das Tosen des Orkans, der die Fensterscheiben erzittern ließ, und den bullernden Ofen.
»Gepäck?« fragte Torrence schließlich.
»Ist durchsucht. Nichts! Kleider. Wäsche … Die ganze Ausrüstung eines Luxusreisenden. Aber nicht ein einziges Dokument. Die Mortimer schwört, daß ihr Mann ermordet worden ist.«
Irgendwo läutete eine Glocke. Maigret öffnete die Schreibtischschublade, in die er am Nachmittag die Pietr, den Letten, betreffenden Telegramme hineingeschoben hatte.
Dann schaute er auf die Karte. Sein Finger zeichnete eine Linie von Krakau über Bremen, Amsterdam, Brüssel nach Paris. In der Gegend von Saint-Quentin ein Haltepunkt: ein Toter. In Paris unvermittelter Abbruch der Linie. Zwei Männer verschwinden mitten auf den Champs-Elysées.
Übrig bleiben nur das Gepäck in einem Appartement und Mrs. Mortimer-Levingston, deren Kopf ebenso leer ist wie der Schrankkoffer des Letten in seinem Schlafzimmer.
Maigrets Pfeife gab ein so entnervendes Gurgeln von sich, daß der Kommissar eine Büchse mit Hühnerfedern aus einer der Schubladen nahm, das Mundstück reinigte, die Ofenklappe öffnete und die schmutzigen Federn hineinwarf.
Vier Bier waren getrunken, in den Gläsern klebten Schaumreste. Ein Mann verließ einen der benachbarten Arbeitsräume, schloß die Tür ab und entfernte sich über den Flur.
»Einer, der Feierabend macht«, bemerkte Torrence. »Das ist Lucas. Er hat heute abend zwei Rauschgifthändler verhaften können, weil der Sohn eines steinreichen Mannes ausgepackt hat.«
Maigret stocherte im Feuer, richtete sich mit gerötetem Gesicht wieder auf. Unwillkürlich griff er zu der Seidenpapierhülle, nahm die Haare heraus und hielt sie ins Licht. Dann stellte er sich erneut vor die Landkarte, auf der die unsichtbare Linie der Reiseroute des Letten eine richtige Kurve, fast einen unregelmäßigen Halbkreis, bildete.
Warum von Krakau bis nach Bremen hinauffahren, um darauf wieder südlich nach Paris zu reisen?
Er hatte immer noch das Seidenpapiertütchen in der Hand. Er murmelte:
»Es hat ein Paßbild enthalten.«
Tatsächlich handelte es sich um einen jener kleinen Umschläge, die die Fotografen benutzen, wenn sie ihren Kunden die Probeabzüge liefern.
Es hatte jedoch ein Format, wie es nur noch auf dem Lande und in kleinen Provinzstädten üblich ist und das einst als Albumformat bezeichnet wurde.
Das Foto, das in dieser Hülle gesteckt hatte, mußte so ein Karton in halber Postkartengröße gewesen sein, auf den das Bild mit dünnem, elfenbeinfarbenem Glanzpapier aufgezogen war.
»Ist noch jemand im Labor?« erkundigte sich der Kommissar plötzlich.
»Ich denke schon. Sie müssen an diesem Fall im Nordexpreß arbeiten, ihre Negative entwickeln.«
Es stand nur noch ein volles Glas auf dem Tisch. Maigret trank es aus, ohne abzusetzen, und zog seine Jacke an.
»Kommen Sie mit? … Auf diesen Fotografien ist im allgemeinen Name und Adresse des Fotografen erhaben oder geprägt eingedruckt.«
Torrence begriff. Sie begaben sich in ein verwirrendes Netz von Korridoren und Treppen, gingen unter dem Dach des Justizpalastes entlang und erreichten das Labor der Spurensicherung.
Ein Fachmann nahm das Papier, befühlte es, schien es gleichsam zu beschnüffeln. Dann setzte er sich unter einen starken Scheinwerfer und rollte einen auf Räder montierten apokalyptischen Apparat zu sich heran.
Das Prinzip ist einfach: ein Blatt weißes Papier, das eine Zeitlang mit einem bedruckten oder mit Tinte beschriebenen Blatt in Berührung gekommen ist, nimmt die dort vorhandenen Buchstaben schließlich auf.
Das Ergebnis ist mit dem bloßen Auge nicht zu erkennen. Doch die Fotografie macht diesen Abdruck sichtbar.
Da im übrigen ein Ofen in dem Labor stand, war es um Maigret geschehen. Fast eine Stunde blieb er daneben stehen und rauchte seine Pfeife, während Torrence dem Fotografen bei seinem Hin und Her folgte.
Endlich öffnete sich die Tür einer Dunkelkammer einen Spalt, und eine Stimme verkündete:
»Da haben wir’s!«
»Und?«
»Das Porträt trug die Aufschrift: ›Léon Moutet, Kunstfotograf, Quai des Belges, Fécamp‹.«
Es gehörte schon ein beruflich geschultes Auge dazu, um die kaum wahrnehmbaren Zeichen auf der Platte zu lesen, auf der beispielsweise Torrence nur undeutliche Schatten erkannte.
»Wollen Sie die Fotos von der Leiche sehen?« fragte der Fachmann gutgelaunt. »Sie sind großartig! Dabei hatten wir in dem Eisenbahnwaschraum nicht gerade viel Platz. Können Sie sich vorstellen, daß wir die Kamera an der Decke aufhängen mußten?«
»Sind Sie hier an das Stadtnetz angeschlossen?« fragte Maigret und deutete auf das Telefon.
»Ja … Nach neun ist die Telefonistin nicht mehr da … Dann kann ich direkt wählen.«
Der Kommissar rief das Majestic an, einer der Dolmetscher war am Apparat.
»Ist Herr Mortimer-Levingston zurück?«
»Ich werde mich erkundigen. Mit wem spreche ich?«
»Polizei!«
»Er ist nicht zurückgekommen.«
»Herr Oswald Oppenheim auch nicht?«
»Nein, auch nicht.«
»Was macht Mrs. Mortimer?«
Schweigen.
»Ich frage Sie, was Mrs. Mortimer macht.«
»Sie … ich glaube, sie ist an der Bar …«
»Mit anderen Worten, sie ist betrunken?«
»Sie hat ein paar Cocktails getrunken, ja. Sie erklärt, daß sie nicht eher in ihr Appartement zurückkehrt, bis ihr Mann wieder da ist. Ist …?«
»Was?«
»Hallo! Hier ist der Geschäftsführer …«, sagte eine andere Stimme. »Gibt es was Neues? … Glauben Sie, daß diese Geschichte in den Zeitungen stehen wird?«
Maigret war unverschämt genug, aufzulegen. Um dem Fotografen einen Gefallen zu tun, warf er einen Blick auf die zum Trocknen ausgelegten, noch feuchten und glänzenden Abzüge.
Gleichzeitig redete er mit Torrence.
»Sie, mein Lieber, quartieren sich im Majestic ein. Aber lassen Sie sich vor allem nicht von dem Geschäftsführer aus der Fassung bringen.«
»Und Sie, Chef?«
»Ich gehe in mein Büro. Um halb sechs fährt ein Zug nach Fécamp. Es lohnt sich nicht, nach Hause zu gehen und meine Frau aufzuwecken. Sagen Sie … Die Brasserie muß doch noch aufhaben. Wenn Sie vorbeikommen, bestellen Sie mir noch ein Glas …«
»Eins …?« wiederholte Torrence mit Unschuldsmiene.
»Ja, mein Lieber! Der Kellner ist schlau genug, darunter drei oder vier zu verstehen. Er soll auch noch ein paar Sandwiches dazulegen.«
Hintereinander stiegen sie eine nicht endenwollende Wendeltreppe hinab.
Alleingeblieben, betrachtete der Fotograf, der einen schwarzen Kittel trug, wohlgefällig die Abzüge, die er gemacht hatte, und begann mit der Numerierung.
Auf einem eiskalten Hof trennten sich die beiden Polizeibeamten.
»Sollten Sie das Majestic aus dem einen oder anderen Grund verlassen, beordern Sie einen von uns da hin!« wies ihn der Kommissar an. »Wenn es erforderlich ist, werde ich dort anrufen …«
Und er kehrte in sein Büro zurück und schürte den Ofen, daß fast der Feuerrost zerbrach.